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Von Gut und Böse (Khalil Gibran)

By admin | August 6, 2009

Und einer der Stadtältesten sagte:
„Sprich zu uns von Gut und Böse.“ Und er antwortete:
Vom Guten in euch kann ich sprechen, nicht aber vom Bösen. Denn was ist das Böse denn anderes als das Gute, das von seinem eigenen Hunger und Durst gequält wird ? Wahrlich, wenn das Gute hungert, sucht es sogar in finsteren Höhlen nach Nahrung, und wenn es durstig ist, trinkt es selbst fauliges Wasser.

Ihr seid gut, wenn ihr eins mit Euch seid.

Doch seid ihr nicht eins mit Euch selbst, seid ihr deshalb nicht böse. Denn ein entzweites Haus ist keine Räuberhöhle; es ist nur ein entzweites Haus. Und ein Schiff ohne Ruder kann ziellos zwischen gefährlichen Klippen treiben ohne unterzugehen.

Ihr seid gut, wenn ihr danach strebt, etwas von euch zu geben. Dennoch seid ihr nicht böse, wenn ihr euren Vorteil erstrebt. Denn sucht ihr euren Vorteil, seid ihr nur eine Wurzel, die sich an die Erde klammert und an deren Brust saugt. Die Frucht kann schließlich nicht zur Wurzel sagen: „Sei wie ich, reif und voll und immer bereit, vom eigenen Überfluss zu geben!“ Der Frucht ist Geben ein Bedürfnis, so wie der Wurzel Empfangen ein Bedürfnis ist.

Ihr seid gut, wenn ihr in eurem Reden vollkommen wach seid. Dennoch seid ihr nicht böse, wenn ihr schlaft, während eure Zunge absichtslos stammelt. Und selbst stockende Rede kann ein schwache Zunge kräftigen.

Ihr seid gut, wenn ihr entschlossen und festen Schritts auf euer Ziel zuwandert. Dennoch seid ihr nicht böse, wenn ihr es hinkend anstrebt. Selbst der Hinkende schreitet nicht zurück. Aber ihr, die ihr kräftig und schnell seid, hütet euch, aus vermeintlicher Freundlichkeit vor dem Lahmen zu hinken.

Auf zahllose Weise seid ihr gut, und seid ihr nicht gut, seid ihr deswegen nicht böse. Sondern nur träge und unentschlossen. Wie schade, dass der Hirsch die Schildkröte nicht laufen lehren kann! In eurer Sehnsucht nach eurem übermenschlichen Selbst liegt euer Gutsein – und diese Sehnsucht lebt in jedem von euch. Aber in manchen von euch ist diese Sehnsucht ein Wildwasser, das mit Ungestüm auf den Ozean zueilt und die Geheimnisse der Berghänge und die Lieder des Waldes mit sich führt.

Und in anderen ist sie ein seichter Bach, der sich in Schleifen und Windungen verliert und immer wieder innehält, ehe er die Küste erreicht. Aber wessen Sehnsucht stark ist, der sage nicht zu dem, dessen Sehnsucht schwach ist: „Was gehst du so langsam und zögernd?“ Denn der wahrhaft Gute fragt nicht den Nackten: „Wo ist dein Mantel?“ noch den Obdachlosen: „Was ist mit deinem Haus geschehen?“

*****
Dieser und andere Texte aus dem Buch „Der Prophet“ sind mir eine wunderbare Quelle der Inspiration z.B. an Tagen wie diesem, Sonne reichlich, kein Windchen geht, Freunde busy oder im Urlaub oder sonniger Trägheit frönend – was gegönnt sei- allseits eine schöne Sommerzeit.

Herzlich
Petra

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